Virun 100 Joer (6) – Eine moderne Verfassung

Große Hoffnungen setzte die Luxemburger Arbeiterbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts in die Einführung des allgemeinen Wahlrechts. Die Arbeiten zur Verfassungsrevision, die im Herbst 1917 begannen, sollten jedoch zeigen, dass das Wahlrecht auch eine Karte im Spiel der Parteien war.

Marguerite Mongenast-Servais, eine der Vorkämpferinnen für das Frauenwahlrecht. (Foto: Archives Marcel Schroeder)

„Endlich!“, titelte am 3. November 1917 die sozialdemokratische Gewerkschaftszeitung „Die Schmiede“, als im Luxemburger Parlament Bewegung in das Dossier „Allgemeines Wahlrecht“ kam, und erklärte: „Das Volk will seine Rechte haben, das Volk hat lange genug gewartet.” [1] Doch schon eine Woche später machte dasselbe Blatt unter der Schlagzeile „Das allgemeine Stimmrecht in Gefahr“ darauf aufmerksam, dass verkappte Gegner dabei seien, die Vorbereitungsarbeiten zur Einführung des allgemeinen Wahlrechts in Luxemburg zu sabotieren.

Worum ging es? Bis zum Ersten Weltkrieg hatte in Luxemburg das Zensuswahlrecht gegolten, das nur denjenigen Bürgern das Wahlrecht zugestand, die ein bestimmtes Minimum an Steuern zahlten. Die Forderung nach einem demokratischen Wahlrecht war zwar bereits während der Revolution von 1848 laut worden, doch bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts wurde lediglich der Zensus allmählich herabgesetzt, sodass der Kreis der Wahlberechtigten sich entsprechend vergrößerte. Seit der Jahrhundertwende schrieb sich besonders die sozialdemokratische Bewegung die Forderung nach dem allgemeinen Wahlrecht auf die Fahne. Damit verbunden war die Hoffnung, dass die kleinen Leute, wenn sie ein Stimmrecht hätten, endlich auch ein Gewicht im politischen Entscheidungsprozess bekommen würden, ja sogar revolutionäre Forderungen im sozialen Bereich durchsetzen könnten – Revolution in kleinen Schritten sozusagen. Daneben forderte auch der Volksverein schon recht früh eine solche Reform. Auf der Gegenseite war vor allem den Liberalen und den konservativen Agrariern nicht wohl bei dem Gedanken, dass Verhältnisse einziehen könnten, in denen die Politik nicht mehr allein in der Hand der Besitzenden sein würde.

Beschlossene Sache

Doch der Zug in Richtung allgemeines Wahlrecht war bereits abgefahren. 1911 reichten der konservative Abgeordnete Antoine Kayser und nach ihm der Sozialdemokrat Michel Welter Vorschläge zur Änderung der Verfassung ein, bei denen es unter anderem um das Wahlrecht ging. Der Ausbruch des Krieges verhinderte, dass die Reform, die eigentlich schon beschlossene Sache war, zur Durchführung gelangte. Im Juli 1917 aber brachten die sozialistischen Abgeordneten eine Motion zum Wahlrecht ein, die einstimmig angenommen wurde. Und im November begannen im Parlament die Diskussionen um die Verfassungsrevision.

Bei dieser war jedoch das Wahlrecht nicht der Hauptaspekt: Prioritär waren eher Themen wie die Trennung von Kirche und Staat, die Souveränität des Volkes oder die Kompetenzen der Monarchin. Hinzu kam, dass etliche Abgeordnete sich noch immer nicht mit einem Wahlrecht für Frauen anfreunden konnten. In dieser ersten Sitzung brachen die Differenzen zwischen den Parteien wohl schon deutlich auf. Der Leitartikler der „Schmiede“ rief nämlich aus: „Mitbürger! Kaum ist der Vorhang über die öffentliche Kammersitzung vom letzten Dienstag gefallen, und schon beginnt die Maulwurfsarbeit.“ [2] Die liberale Partei versuche, durch besonders radikale Forderungen die Klerikalen zu verschrecken und so einen Konsens zwischen den drei großen Parteien zu verhindern, der für die Verfassungsänderungen erforderlich war. Und die Klerikalen seien untereinander uneins. Aber auch im „Luxemburger Wort“ warf man den Liberalen vor, sie wollten durch eine Multiplizierung von Änderungsvorschlägen für die Verfassung die ganze Prozedur abbremsen und so die Einführung des allgemeinen Wahlrechts verhindern. [3]

Dass die Forderung nach dem allgemeinen Wahlrecht auch von der Rechtspartei aufgestellt wurde, gefiel längst nicht allen, wie ein Editorial aus dem linksliberalen „Tageblatt“ zeigt: „Alarm!“ titelte diese Zeitung am 15. November 1917 auf ihrer ersten Seite. Wohin die Klerikalen das Staatsschiff steuern wollten, sei in den letzten Tagen klar geworden. „In bombastischen Worten und in der Pose des Vaterlandserretters hat Hr. Dupong in der Kammer dem Lande die frohe Botschaft verkündet. Der christlich-soziale Vertreter des Produzentenkantons Wiltz, Hr. Reuter, erklärte sich mit Hrn. Dupong einverstanden, und drängte auf möglichst schnelle Erledigung der brennenden Frage. Wie die Verhältnisse liegen, dürfte uns die Einführung des allgemeinen Stimmrechts in Kürze beschieden sein.” [4]

Bereits 1911 trat der Katholische Volksverein in einer Broschüre für das allgemeine Wahlrecht ein. (Quelle: Bibliothèque nationale Luxembourg)

Das „Tageblatt sei immer schon für das allgemeine Wahlrecht eingetreten, doch hege es Argwohn gegenüber klerikalen Geschenken: „Wenn die Klerikalen sich heute mit solchem Eifer für das Stimmrecht ins Zeug legen, für jenes selbe Stammrecht, das ihr Führer, der verstorbene Hr. Ph. Bech noch vor 4 Jahren als öffentliches Unglück“ bezeichnete, muß etwas faul sein im Staate Dänemark.” Die Klerikalen wollten „endgültig und ohne Einschränkung“ ans Ruder kommen. Die Linksparteien müssten sich einigen: „Der Sozialismus kann später seinen Kampf gegen die Liberalen ausfechten. Zunächst gilt es, den Generalsturm des gemeinsamen Feindes abzuschlagen. Nur geeinigt können wir siegen. […[ Sofort müssen die Parteileitungen der linken Parteien sich verständigen. Hannibal ante portas!“ Auch der „Arme Teufel“ warnte: „Wo eine Hexe einen Apfel schenkte, da barg er tödliches Gift, und wo ein Pfaffe nach dem Fortschritt ruft, da ist totsicher irgendwo ein Haken dran zum bremsen.“ [5]

Doch die sozialistischen Abgeordneten sahen dies anders. Anfang Dezember richteten sie einen offenen Brief an ihre Kollegen von der liberalen, von der katholischen und von der Volkspartei. „Nous sommes persuadés,“ hieß es darin, „que comme nous, vous et vos amis êtes décidés à doter notre pays d’une Constitution démocratique moderne”. [6] Sie versuchten also zu diesem Zeitpunkt noch, eine Verfassungsrevision im Konsens zu erreichen. Damit zeigten sie auch, dass sie weiter den Weg der parlamentarischen Repräsentation einschlagen wollten.

Dass gerade im Jahre 1917 der Prozess für eine grundlegende Verfassungsreform wieder in Gang kam, war vielleicht kein Zufall. Das alte Anliegen des allgemeinen Wahlrechts wurde im Krieg zu einer zentralen Forderung der internationalen Arbeiterbewegung, es stand für das ganze Streben nach einer neuen Gesellschaft, in der alle Menschen gleichgestellt sein würden. Und als im Februar 1917 in Russland die Februarrevolution ausbrach, stand auch das allgemeine Wahlrecht, insbesondere das Frauenwahlrecht, an erster Stelle. Dies verstärkte vielleicht auch in den Parlamenten in Westeuropa den Druck, dieser Forderung endlich nachzugeben.

Frauenemanzipation

Auch in Luxemburg wurde in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung nun die Forderung des Frauenwahlrechts zum Thema. Schon seit Beginn des Jahrhunderts war in ihr die politische Unmündigkeit der Frauen vielfach erörtert worden. Doch im Parlament setzte sich von dieser Seite kein Abgeordneter für die Sache ein. Dies änderte sich 1917. Schon bei der 1.-Mai-Feier in der Stadt Luxemburg sprach Margarethe Hey aus Differdingen als erste Rednerin – ein Novum, das sich bis ins 21. Jahrhundert nicht mehr oft wiederholte – und sprach sich dabei für das Frauenwahlrecht aus. In der „Schmiede“ wurde die Genossin Hey mit den Worten zitiert, „daß der Krieg auch die Stellung der Frau verändert und sie ins öffentliche Leben gedrängt habe. Der Arbeiter soll das Verständnis der Frau für politische Fragen anregen und sie nicht zurückhalten bei ihren Emanzipationsbestrebungen. Sonst wird die Frau dem Manne als Konkurrentin entgegentreten, billiger schaffen und den Lohn drücken und hernach wird das Elend größer sein als umher”. Hier kam bereits der Widerspruch zum Vorschein, aus dem die Sozialdemokratie lange nicht herausfinden sollte, dass man zwar den Frauen das Wahlrecht zugestehen wollte, aber nicht unbedingt das Recht auf Erwerbstätigkeit in den klassischen Männerbereichen.

Petition für das Frauenstimmrecht. (Quelle: Der Arme Teufel. 8.6.1918, S.2)

Ab Sommer 1917 gab es kaum eine Ausgabe der „Schmiede” mehr, in der nicht über das Frauenwahlrecht geschrieben wurde. Auch in der „Sozialistischen Partei“, wie sie sich jetzt nannte, tat sich seit diesem Zeitpunkt etwas: Eine ganze Serie von Frauenkonferenzen wurde organisiert, nicht nur für das Frauenwahlrecht an sich, sondern auch, um Frauen für die aktive Parteiarbeit zu mobilisieren. Damit war die Sozialistische Partei sicher die einzige, für die die Forderung nach dem Frauenwahlrecht mehr war als ein Punkt in den Kammerverhandlungen. Im Juni 1918 wurde sogar eine Petition an das Parlament lanciert, die ein paar hundert Unterschriften zusammenbrachte. Eine zentrale Rolle spielte in dieser Agitation neben Margarethe Hey auch Marguerite Mongenast-Servais, eine der wenigen bürgerlichen Frauen, die den Weg ins sozialdemokratische Lager fanden.

Über die Oktober-Revolution in Russland wurde dagegen mehr im „Luxemburger Wort“ und im sozialliberalen „Tageblatt“ geschrieben als in der „Schmiede“ oder im radikalen „Armen Teufel“. Auch dass in Russland das klassische System der Repräsentation durch gewählte Volksvertreter den Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräten Platz machen musste, brachte in Luxemburg niemanden dazu, sich zu fragen, ob man nicht auch hierzulande den Parlamentarismus in Frage stellen müsse. Alle Hoffnungen bezüglich einer Besserstellung des Proletariats richteten sich auf das allgemeine Wahlrecht. Doch schon ein Jahr später, am Ende des Krieges, hatte das russische Modell der direkten Demokratie auch in Luxemburg Konjunktur, und es kam zu Massendemonstrationen, Volksversammlungen und der Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten

Dieser Beitrag zum Medienprojekt „1917“ wurde zuerst am 21.10.2017 in einer Tonversion auf Radio 100,7 ausgestrahlt. Mehr zum Medienprojekt auf 1917.woxx.lu.

[1] Endlich, in: Die Schmiede, 3.11.1917, 1.
[2] Das allgemeine Stimmrecht in Gefahr, in: Die Schmiede, 17.11.1917, 1.
[3] Kammer-Revue, in: Luxemburger Wort, 22.11.1917, 2.
[4] Alarm!, in: Tageblatt, 15.11.1917, 1.
[5] Das allgemeine Stimmrecht, in: Der arme Teufel, 25.11.1917, 1.
[6] Eine entscheidende Initiative, in: Die Schmiede, 1.12.1917, 1.
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