Ende Mai 1917, mitten im Krieg, riefen die Arbeiter im Süden des Landes den Streik aus. Welche waren ihre Motive? Und was hatte der Streik mit der Russischen Revolution zu tun?
„Alle Tage Kohlrabien, Kohl und Möhren ist nichts, um arbeiten zu gehen,“ so hieß es im Dezember 1916 auf einer Arbeiterversammlung. Und weiter: „Entweder schafft die Regierung uns Futter oder wir legen die Arbeit nieder.“ Die Kartoffeln seien teurer geworden als die Orangen, was damals etwas hieß. [1] Die katastrophale Lebensmittelsituation und die steigenden Preise wurden auch nicht durch entsprechend höhere Löhne in den Eisenhütten kompensiert.
Bereits im August 1916 war es in Esch zu einer ersten Protestdemonstration gekommen, bei der die Beschlagnahmung der Lebensmittel und ihre Verteilung durch ein „Comité populaire“ gefordert worden war. Es war kein Zufall, dass diese Demonstration von Gewerkschaftsseite organisiert worden war. Sie war der Ausgangspunkt einer gewerkschaftlichen Bewegung, die zum ersten Mal in Luxemburg einen größeren Umfang aufwies.
Radikalisierung
Die Arbeitgeber der Eisenindus- trie erkannten nicht, dass sich damit ein neuer gesellschaftlicher Akteur anschickte, auf das Terrain der Aushandlung sozialer Bedingungen für die arbeitende Bevölkerung zu treten. Seit November 1916 war es in einer Reihe von Betrieben zu Streiks gekommen, die von den Gewerkschaften unterstützt worden waren und die meistens zugunsten der Arbeiter ausgingen, zum Beispill bei der Kesselfabrik Paul Wurth und der Hollericher Eisenhütte. [2] Anfang Mai 1917 endete auch der Streik bei der „Prinz-Heinrich“-Eisenbahn-Gesellschaft mit einem Erfolg.
Die Arbeitgeber bedachten vielleicht auch nicht, dass die Russische Revolution die Radikalisierung der Arbeiterschaft förderte. Die Forderungen der Gewerkschaftsbewegung nach einer massiven Erhöhung der Löhne in den Eisenhütten im April 1917 waren nicht nur Reaktion auf die Lebensmittelteuerung und ein Appell an die großen Arbeitgeber, ihre Verantwortung für die Arbeiter wahrzunehmen, sie waren auch der Ausdruck eines neu entstandenen Selbstbewusstseins der Arbeiterschaft.
Weil die Hüttenherren sich weigerten, über eine Lohnerhöhung auch nur zu reden, spitzten sich die Ereignisse im Süden zu. Am 30. Mai 1919 nahmen an einer Arbeiterversammlung in Esch Tausende von Menschen teil; statt in einer Kneipe musste die Versammlung daher im Stadtpark abgehalten werden. Die Regierung hatte verstanden, dass es ums Ganze ging, und entsandte den Distriktskommissar und den Chef der Gewerbe- inspektion an den Ort des Geschehens. Der Distriktskommissar versuchte, die Arbeiter zu beruhigen und forderte sie auf, sich noch ein paar Tage zu gedulden, weil die Regierung bereits mit den Hüttenherren im Gespräch sei. Im „Tageblatt“ konnte man die Antwort lesen: „Aus den versammelten Arbeitern heraus wurde ihm jedoch entgegengerufen, daß die Zeit abgelaufen sei und daß man nicht länger warten wolle.“ [3] Am selben Abend noch wurde der Streik beschlossen, und am Tag darauf begann der Ausstand in den Werken von Esch, Differdingen, Rodange und Rümelingen. [4] Düdelingen zog nach. Im gesamten Escher Kanton wurde daraufhin von der deutschen Heeresverwaltung der „Alarmzustand“ ausgerufen; deutsches Militär patrouillierte in den Straßen.
In einem Brief unterrichtete der Differdinger Bürgermeister Emile Mark Staatsminister Victor Thorn davon, General Tessmar, der Befehlshaber der deutschen Truppen in Luxemburg, habe ihm klargemacht, „dass die deutsche Heeresverwaltung die Beendigung des Streikes herbeiwünsche, einerseits aus kriegsindustriellen Zwecken, andrerseits weil sie im Rücken des deutschen Heeres keine Unruhen dulden könne“. [5] Wenn der Streik nicht beendet werde, müsse er verschiedene Arbeiter nach Trier abführen lassen.
Im linksliberalen „Tageblatt“ wurde bedauert, „daß diese ganze Agitation den Interessen der Arbeiter kaum dienlich sein kann, da ein ruhiges Abwarten der begonnenen Verhandlungen mit ziemlicher Sicherheit einen Ausgleich mit den Hüttenwerken herbeigeführt hätte“. Es wurde davor gewarnt, dass die Hüttenherren es nun ihrerseits auf ein Kräftemessen ankommen lassen würden. „Was würden aber unsere Arbeiter anfangen, wenn die Hütten sie entließen, oder auch nur, zur Maßregelung die Kantinen, wie es jetzt der Fall ist, geschlossen hielten?“ [6] Das „Tageblatt“ gab sich überzeugt, dass der moralische Urheber der ganzen Wut die klerikale Partei sei, „deren zweites Wort immer in eine Verdammung der Großindustrie hinauslief“.
Auch im Gewerkschaftsorgan „Die Schmiede“ konnte man zur Haltung der Klerikalen lesen: „Monatelang hatten sie gegen die Schwerindustrie gewettert und scharf gemacht, in dem Augenblicke aber, wo die Escher Arbeiterschaft vor die Entscheidung gedrängt wird durch das intransigente Verhalten der Werke und den schleppenden Gang der Verhandlungen, wirft das ‘Luxemburger Wort’ ihr Unvernunft an den Kopf und sieht in der Gewaltmaßnahme eines Streikes vaterlandsgefährliche Vermessenheit.“ [7]
In diesen Aussagen wird deutlich, dass sich in der neuen Gewerkschaftsbewegung zwei Tendenzen herausgebildet hatten: eine in Richtung der Sozialdemokratie, und die andere in die des katholischen Lagers. Dazwischen gab es noch eine kleine, aber anfangs durchaus relevante Gruppe, aus der die sogenannte „Freie Volkspartei“ hervorging und deren Anführer Kappweiler sich als liberal bezeichnete.
Der katholische Flügel der Gewerkschaftsbewegung war also in den Juni-Streik impliziert. Der Historiker Jean-Marie Majerus hat darauf hingewiesen, dass der neue „Luxemburger Berg- und Hüttenarbeiterverband“, der den Streik ausgerufen hatte, seit 1916 großen Anklang bei den katholischen Arbeitern fand und der Zentralvorstand des „Verbandes der katholischen Arbeitervereine“ ihnen empfohlen hatte, dieser als neutral verstandenen, von Pierre Kappweiler und Bernard Herschbach geführten Gewerkschaft beizutreten. Diese beiden hätten als Abgeordnete im Parlament mit der Rechtspartei zusammengearbeitet. [8]
Über die strategischen Aspekte hinaus stellt sich hier die Frage der Orientierung der katholischen Arbeiterbewegung. Einerseits tat sicher ein sozial verstandener Katholizismus seine Wirkung, wenn – wie in Diekirch – bei der Gründung eines katholischen Arbeitervereins angekündigt wurde, die Pfarrer würden zu den Bauern gehen, um Kartoffeln für die Mitglieder des Arbeitervereins aufzukaufen, oder wenn eine bessere Sozialgesetzgebung gefordert wurde. [9] Auf der anderen Seite manifestierte sich beim Streik auch ein katholischer Antikapitalismus, der sich schon bei dem Rechtsabgeordneten Pierre Dupong geäußert hatte, als er im April 1917 im Parlament seine Begeisterung über die Russische Revolution zum Ausdruck brachte.
Schwarze Listen
Jedenfalls trat das ein, wovor das „Tageblatt“ gewarnt hatte. Der Streik wurde mit militärischen Mitteln beendet, die Arbeiter, die sich beteiligt hatten, wurden von den Arbeitgebern „gemaßregelt“ – ein Wort, das schon für sich bezeichnend für das paternalistische Selbstverständnis der Hüttendirektionen ist. Einer Reihe von Arbeitern wurden die Werkswohnungen gekündigt, verschiedene kamen sogar in Arrest. Am schlimmsten aber war das System der schwarzen Listen. In den Wochen und Monaten nach dem Streik fanden viele der Arbeiter, die mitgestreikt und dadurch ihre Stelle verloren hatten, keine neue Arbeit, weder bei ihrem alten noch bei einem neuen Arbeitgeber. Unter ihnen waren gerade auch Gewerkschaftsführer, wie der Katholik Jean-Baptiste Rock oder die Sozialdemokraten Jean Schortgen und Dominique Moes. [10]
In einer Unterredung mit der Regierung räumten die Hüttenherren ein, dass es solche schwarzen Listen in ihren Betrieben gab, bestritten aber, dass sie diese Listen mit anderen Arbeitgebern austauschten. Emile Mayrisch, der Direktor der Düdelinger Hütte, gab jedoch in einem separaten Gespräch zu, dass die Hütten sich abgesprochen hatten, bis zum 16. Juli keine Arbeiter von einer anderen Hütte einzustellen. [11]
Anders als in Russland endete der Juni-Streik also nicht mit einem Erfolg für die Arbeiterschaft und brachte das kapitalistische System nicht ins Wanken. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die streikenden Arbeiter, sich einer gewissen Solidarität der politischen Kreise erfreuen konnten. So beschloss der Differdinger Gemeinderat unter seinem linksliberalen Bürgermeister Emile Mark während des Streiks einstimmig, die Betroffenen mit Lebensmitteln zu versorgen – mit dem Argument, „da es sich um Differdinger Bürger handelt“. Der Escher Schöffenrat nahm an einer Unterredung von Vertretern des „Berg- und Hüttenarbeiterverbandes“ mit der Regierung teil. Und in einem Brief an die Hüttendirektionen vom 20. Juli 1917 bemerkte sogar der Industrieminister Faber tadelnd: „[die] Beibehaltung Schwarzer Listen hat in der Deputierten-Kammer und im ganzen Lande peinlichen Eindruck hervorgerufen.“ [12] Bei einer Debatte im Parlament vom 27. Juli 1917 ging die Regierung das moralische Engagement ein, denen, die durch das System der schwarzen Listen Gehaltseinbußen erlitten hatten, eine Entschädigung zukommen zu lassen.
Eine Folge des Streiks war auch, dass eine Forderung, die die Arbeiter immer wieder gestellt hatten, von der Regierung aufgegriffen wurde; nämlich die nach der systematischen Einführung von Fabrikräten, in denen auch die Arbeiter vertreten und deren Verhandlungsspielräume klar definiert wären. Doch erst im April 1919, nach dem die Direktionen der großen Betriebe um ihre Meinung gefragt worden waren, wurde diese Maßnahme über den Umweg einer Notstandsbestimmung eingeführt. Dass die Arbeiter in der Krisensituation am Kriegsende, im November 1918, eigenhändig Arbeiterräte eingeführt hatten, dürfte dazu beigetragen haben, dass die Regierung ihr Versprechen von 1917 endlich einlöste.